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« Raum ist vieldimensional. Um den Wust an raumbestimmenden, meist divergierenden Anforderungen und Wünschen architektonisch zu moderieren, braucht es Methode. Auf ‹die› eine Idee und Autorenschaft vertrauen wir schon länger nicht mehr. Uns interessieren breit gestützte, robuste Sinngeflechte – und das Verfahren dazu, denn vor allem die Art und Weise, wie man entwirft, bestimmt, was man entwirft. » 
Erschienen in Wege zum Raum, Konstruktive Denkweisen in der Architekturausbildung, dort finden sie auch weitere hier fehlende Illustrationen und Beiträge meiner Kolleginnen und Kollegen der Hochschule Luzern. Mit dem Text versuche ich mein bisheriges Verständnis für meine Lehrtätigkeit zu fassen.

 

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Die nachstehenden Gedanken beziehen sich auf das Theorie- und Entwurfsmodul zur Tektonik (2013 - 2019) im dritten Studienjahr des Bachelorstudiengangs an der HSLU (im weiteren Text als Advanced bezeichnet). Das müssige Verständnis des 19. Jahrhunderts, die Theorie sei eine der Praxis übergeordnete Instanz, wollen wir hinter uns lassen. Wir wollen Kern- und Projektmodule, Theorie und Anwendung zueinander in Beziehung setzen und damit unsinnige Trennungen aufheben. Alle Unterrichtsteile sollen sich gegenseitig stärken und bedingen. Sämtliche Studienelemente der zwei Tektonik-Module zielen darauf ab, den Bedeutungsraum von Tektonik auszuleuchten. Im Entwurfsmodul nähern wir uns der noch unerschlossenen Thematik von verschiedenen Seiten. Aus zunächst prismatisch angelegten Einzelsichten wird ein komplettes Bild zusammengesetzt.

 

Das Vorgehen illustriert eine kleine Kindergeschichte von Irma E. Webber ganz gut:

"Vier Mäuse lebten zusammen in einer alten Scheune. Jede Maus schaute gewöhnlich durch ihr Astloch, um die Tiere des nahen Bauernhofs zu beobachten. Es gab unzählige Debatten über das Aussehen der Kuh. Die erste sah die Vorderseite, die zweite die Unterseite, die dritte den Rücken und die vierte das Hinterteil [...]".1

 

1 INTENTION
Im Advanced meide ich strapazierte Begrifflichkeiten wie «Idee» oder «Konzept». Lieber spreche ich über Intentionen, über das Warum von Ideen. Tektonik verstehe ich als Form gewordene Intention. Die tektonische Haltung bestimmt das Verhältnis von Machart und Ausdruck. Ideen können zu leicht von persönlichen Vorlieben dominiert sein; Absichten hingegen scheinen der Willkür von Einzelnen weniger stark ausgesetzt. Sie sind vom Anspruch getragen, Fragestellungen ganz durchdringen zu wollen. Dafür braucht es keine Idee eines launenhaften Genius, sondern beharrliches Befragen und sorgfältiges Auseinandersetzen mit dem Gegebenen, um einen gültigen Standpunkt zu finden und die Haltung zu festigen. Bei einer solchen Auseinandersetzung geht es kaum mehr um die eine Idee, den starken Wurf oder geschmackliche Präferenzen. Damit wurden wir Dozierende noch im Studium durch Professoren und Idole geprägt. Es geht mir heute vielmehr um ein Erkennen eines aus einer Vielzahl von Strängen fest verwirkten ‹Sinngeflechts›2, bei dem heterogene Bestandteile ineinanderarbeiten. Als Autor trete ich eher zurück.

Stehen nicht Sinnhaftigkeit und Verantwortung im Vordergrund unserer Arbeit? Sollte das Gros der Architekturproduktion nicht weniger auf heiteren Entscheidungen eines vermeintlichen Genius oder der Besteller gründen? Sollte es nicht vielmehr darum gehen, durch hartnäckiges, profundes und liebevolles3 Abarbeiten sämtlicher Operanden universellere und damit beständigere Antworten zu finden? «We do not provide houses, we have to achieve them»,4 so fasst es Michael Benedikt zusammen. Das gefällt mir.

Konzepte sind wertfrei, absichtslos. Sie sind Kommunikationsmittel. Mithilfe von Konzepten wird Expertenwissen zugänglich und kann über die Disziplinen hinweg besprochen werden. Architekten verständigen sich zum Beispiel in Tragwerkskonzepten mit Ingenieuren und in grösseren, interdisziplinären Teams, so kann über ein Konzept eine gemeinsam getragene Haltung und Autorenschaft5 fixiert werden. Ein Konzept ist aber noch keine Idee.

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2 SINNGEFLECHTE, ALLES IN ALLEM

Was wir früher den Ort, die Funktion, die Konstruktion und Form nannten, bezeichnen wir heute als Triage aus den drei grossen T’s: Tekton(ik), Topos und Typus. Diese setzen wir mittels einer gemeinsamen Haltung in möglichst stabile, wechselseitige Abhängigkeit. Entwarfen wir früher konsekutiv, einem Vogelblick gleich von oben nach unten, vom grossen ortsbaulichen Massstab über den Grundriss hinunter zur nicht selten nachträglich aufgesetzt wirkenden Konstruktion, so wollen wir heute simultaner, alles in allem denken. Den Entwurfsprozess beginnen wir daher je nach Aufgabenstellung anders. Wir beginnen bei einem landschaftlich geprägten Projekt, einem Kaltstart gleich, zuerst mit den Möglichkeiten, die uns eine Materialentscheidung aus dem Kontext anbietet; oder wir ersinnen als erstes Lebenswelten, deren Stimmung räumliche Sequenzen bis in den konstruktiven Ausdruck prägen können. Ziel ist es, die Triage im Gesamten zu durchdringen, sämtliche Teile in möglichst starke wechselseitige Abhängigkeit zu setzen. Nach Wochen beharrlicher Varianten, breit angelegter Recherchen und Wechsel der Arbeitsmittel festigt sich – oft erst im zweiten Drittel des Semesters – die über Wochen der Aufgabenstellung abgerungene Haltung, ein alles durchdringender Spirit. Die vielbemühte «Idee» (lat. Idee = Geist) tritt zutage.

Tektonik lässt sich nicht auf eine baukonstruktiv-technische oder geschmacklich-künstlerische Option reduzieren. Es geht nicht um Konstruktion oder Form, sondern um ein intentional bestimmtes Verhältnis von Machart und Ausdruck. Auch die Typologie und städtebauliche Setzung sind keine solitären, unabhängigen Entscheidungen, die ein Projekt ausmachen. Manche Wettbewerbsentscheidungen begründen Jurys merkwürdigerweise mit: Der Städtebau sitzt, die Fassade ist noch zu erarbeiten. Als ob eine volumetrische Setzung ein gutes Haus garantierte, die Fassade nun im Anschluss noch fast unabhängig davon entworfen werden könnte. Nein! Es geht darum, das mühselig zu verhandelnde gemeinsame Band, den Kern und Geist der Triage in möglichst unumstössliche Übereinstimmung zu bringen. Die divergierenden Teile sind miteinander zu verwirken und zu festigen, dass es als ganzheitliche Aussage fass- und beurteilbar wird.

Nur so können wir geschmacklichen Präferenzen entkommen und professionell beurteilen. Je kleiner die resultierende Schnittmenge, je weniger Möglichkeiten die ortsspezifische, typologische und tektonische Wahl noch zulässt, desto treffender und bedeutsamer wird die resultierende Architektur sein. Das ist nichts weniger als die Grundlage architektonischer Sinnhaftigkeit.6

3 Caulophyllum thalictroides

 

3 ZWANGSLÄUFIGKEIT

Jedes Studienjahr erhoffe ich mir, manche Studierende dürften die befreiende (sic!) Zwangsläufigkeit der oben beschriebenen Betrachtungsweise erleben. Wenn sich Argumentationsstränge derart verdichten, dass sich zwar noch so manches zeichnen lässt, es aber nichts mehr zu erfinden gibt. Diesen Moment zu erfahren, wenn nicht mehr geredet werden muss, weil alles gesagt und ge- dacht ist, weil das Projekt gedanklich zu Ende entwickelt wurde. Dann den Stift gelassen niederlegen, das ist schön, ja erhaben wie Mathematik.7 Studierende sollten einmal erfahren dürfen, dass ein Projekt fertig sein kann, im Grunde immer fertig sein muss. Das sollte Ziel der Anstrengung sein, im Studium wie in der Praxis. Nur derjenige und diejenige sollten bauen, die – architektonisch – etwas zu sagen haben und nicht plappern. Ehrlich? Zu diesem Punkt schaffen es die wenigsten.

4 Blog Tektonik 

 

4 REPERTOIRE

«Wer schreiben können will, der sollte lesen», sagte ein an mir über Jahre gescheiterter Deutschlehrer. Sinngemäss gilt das auch für die Architektur, denn aussergewöhnlich Begabte sind rar. Kein Unterricht kann sie hervorbringen – aber auch nicht verhindern. Mittels solidem Repertoire und gutem Handwerk halten wir einen Grossteil architektonischer Aufgaben jedoch für gut bewältigbar. Wir unterstützen das im Studium durch verschiedene Studienelemente.
Zeitgenössische Positionen und persönliche Haltungen erklären uns junge wie arrivierte Kolleginnen und Kollegen in Inputs. Den Schwerpunkt schreiben wir dabei vor: Tektonik, Machart und Wirkung. Gezeigt werden soll auch die eigene Haltung und der Prozess. Es soll das mühselige Ringen um die persönliche Position und das eigene Werk offengelegt werden. Die Studierenden erkennen dadurch, dass dieses Ringen mit dem Einstieg in die Praxis weder enden wird – noch soll.

Um eloquent aus einem reichen architektonischen Fundus schöpfen zu können, vermitteln wir daneben historisches Repertoire und Theorie in Vorlesungen. Besprochen werden weniger populäre Architekturen, sondern Arbeiten abseits des Mainstreams mit Qualitäten, die sich nicht auf den ersten Blick erschliessen. Manche Augen würden sie achtlos übersehen.

Besonders nachhaltig lehrreich erscheint uns das in eigenständigen Analysen von Bauten angeeignete Wissen. Dazu werden wie in den Vorlesungen weniger herausragende Prototypen, sondern schlichte, gute, vielmals anonyme Bauten ab der Jahrhundertwende herangezogen. Die Studierenden ergründen daran das jeweilige tektonische Dispositiv zwischen Form und Konstruktion. Sie formulieren zum Analyseobjekt eine hypothetische tektonische Haltung, gerade so, als wären sie selbst die Projektverfasser. Diese Analyse als gegenläufiger Prozess zur Entwurfssynthesis etablierte sich in den letzten Jahren als starker Baustein einer Sehschule und unabdingbare Reflexionsgrundlage für die eigenen Versuche im Entwurfsmodul.

Was habe ich vor mir? Was ist eigentlich eine Absicht? Was mag die hypothetische Absicht des Verfassers sein? Woran manifestiert sie sich? Ist sie präzise formuliert? Gibt es Ähnliches, aber Besseres? Wie kohärent ist das Projekt? Ist das gut genug?

Meret Oppenheim Mein Kindermädchen 

5 MITTEL

Die Arbeit 'Mein Kindermädchen' von Meret Oppenheim zeigt, wie sehr Arbeitsstrategie und Ergebnis korrelieren. Das Aufeinanderprallen der collagierten Gegenstände erzeugt anregende Bedeutungsverschiebungen und schafft Gedankenräume. Am Computer oder mit dem Stift hätte das nie so entstehen können. Nur mit Fundstücken aus dem Brockenhaus im Atelier und mit den Händen war das möglich.8

Wir ideologisieren weder Architekturstile noch Arbeitsmittel. Zu wenig vertrauen wir in vorgespurte Lösungswege und in Unterteilungen in richtig und falsch. Die Wahl der Mittel und Herangehensweisen halten wir uns bewusst offen und bieten den Studierenden eine möglichst anregende Arbeitspalette. Trainiert werden soll eine schnelle Kopf-Hand-Verbindung, damit es möglichst keine Reibungsverluste zwischen Gedanken und Umsetzung gibt.

Wir zeigen verschiedene tektonische Zugänge über das konstruierende Entwerfen oder das entwerferische Konstruieren. Je nach Aufgabenstellung beginnen die Studierenden eher bei der Imagination, einem Bild eines Projektes oder mit dem Material und seinen Fügungsprinzipien beziehungsweise Möglichkeiten der Bearbeitung.

Eine Vorstellung kann sowohl durch eine Skizze oder Collage, mit dem schönen Nebeneffekt der Recherche, entstehen, als auch mit einer literarischen Annähe- rung an eine Lebensvorstellung. Genauso aber kann mit dem Material und sei- nen konstruktiven Ausdrucksmöglichkeiten begonnen werden. Egal, von welcher Seite sich Studierende nähern: Machart und Wirkung werden im Prozess die gleiche Aufmerksamkeit zu schenken sein, denn sie bedingen sich und müssen sich in den Dienst des gemeinsamen Narrativs stellen.9

Nach Alfred Pliske 

6 ANGEWANDTE KUNST

Wir verstehen Architektur auch in der Ausbildung als angewandte, nicht-freie Kunst, als Gratwanderung zwischen den Künsten und der Technik. Wir sind weder Ingenieure noch Künstler, unser Potential liegt zwischen beiden Polen. Architekten sind deswegen aber nicht einfach Generalisten, sondern eher Romantiker. Sie setzen sich der Zerrissenheit architektonischer Projekte aus und sind vom Projekt berührt. Sie schaffen es, unterschiedlichste Anforderungen in ihrer Essenz zu verstehen und die oft spröden, divergierenden Fäden zu einem starken Stoff zu verwirken. Gleich einem Stück Filz, dessen unterschiedliche Fäden, also Anforderungen und Wünsche, zu einem festen, unverrückbaren Gewirk verarbeitet werden, indem sich die Fäden in wechselseitige Abhängigkeit bringen. So entstehen starke und vermutlich eher leise Architekturen, geschlagen mit der feinen Klinge. Eigene Ideen und Wünsche treten in den Hintergrund und damit in den Dienst des Projektes.


Wir bilden keine Dienstleister für Bauherrenwünsche heran, sondern Architektinnen und Architekten, die Bauherren auch vor ihren Wünschen bewahren können. Im Zuhören und Übersetzen, in der umsichtigen, verantwortungsvollen Lenkung und sorgsamen Förderung vermuten wir kraftvolle Ruhe und Gelassen- heit, die wohl grosser Architektur innewohnt.

 

7 AUSBLICK

Mit dieser Denkart glauben wir eine – unter möglichen anderen – Antworten geben zu können, die auf die Potentiale und die Gefahren der divergierenden Vielfalt unserer Gesellschaft und Architekturproduktion reagiert. Ein rhizomisch angelegtes Sinngeflecht, das weniger der Tyrannei einzelner Interessen10 ausgeliefert ist, sondern durch wechselseitige Abhängigkeiten seine Bestandteile plausibilisiert und stärkt. Die rhizomische Durchflechtung und Offenheit der Lesarten zeitigt Ruhe und Gelassenheit in den architektonischen Antworten. Womöglich fallen weniger vorschnelle und harte Entscheidungen, solange wir uns zur stetigen Reflexion nötigen und uns immer wieder fragen: Warum, wozu braucht es etwas? Mit dieser Haltung kann man durchaus gute Architektur machen. Ungewöhnliche, lustvoll transgressive Bauten brauchen eine andere Herangehensweise. Nur zweifle ich daran, dies umfassend unterrichten zu können oder zu müssen, denn das Studium ist nur ein kleiner Abschnitt einer langfristi- gen, im Grunde autodidaktischen Lebensweise. Wir geben den Start dazu an der Schule. Wir zeigen, wie hoch die Masslatte sein kann, wie weit man gehen kann oder muss, wie sehr es Feuer für die Sache braucht. Dies ist die Essenz unserer Arbeit als Dozierende. Ich kenne keine andere Berufung – Beruf zu sagen, wäre zu schwach – , die von so vielen Themengebieten durchdrungen ist. Architektur erstarkt an ihrem Komplexitätsgrad. Das stimmt mich trotz der vielerorts zu beobachtenden, vereinfachenden Tendenzen zuversichtlich.


Architekt oder Architektin zu sein bedeutet also nicht, schnöder Generalist zwischen den Polen Bau und Kunst zu sein, es ist sehr viel mehr. Es ist eher eine Wahrnehmungs- und Sensibilisierungsschule für eine besonnene, liebevolle Sichtweise auf unsere Welt. Wenn Schönheit – etwas verkürzt – eine Art sinnlich wahrnehmbare Liebenswürdigkeit sei, ein irgendwie positives, anziehendes Gefühl und im Grunde scheu wie ein Reh,11dann ist es diese Art von tiefer Berührtheit, die ich den Studierenden auf den Weg geben will. Das zu vermitteln, empfinde ich als grosse Herausforderung und Freude.

 

1 nach Irma E. Webber, It Looks Like This; New York; William Scott, 1949
2 Wirkung, Wirken, Walken, Teigen. Das Ineinanderarbeiten, heterogener Bestandteile.
3 vgl. Gedanken zum liebevollen Erzähler bei Olga Tokarczuk Die Nobelpreisrede, Kampa Verlag, 2020
4 For an Architecture of Reality (Englisch) Taschenbuch, Lumen Books; Auflage: Reprint (1. Januar 1992), Michael Benedict
5 Anregung war. Kenneth Frampton, Grundlagen der Architektur
6 Wir vergleich das mit der Kohärenz verbaler, non- und paarverbaler Kommunikation.
7 Wie das Mikrofon abgelegt wird nach einem Battle Rap. Drop the mike. Eminem in 8 Miles
8 Juhani Pallasmaa, The Thinking Hand, Existential and Embodied Wisdom in Architecture, John Wiley & Sons, Ltd., 2009 sowie Mani Pulati Onen, Swiss Spring School im Februar 2019, www.rossmaier.com 
9 Es gibt kein Projekt, kein projiziertes Bild, keine kulturelle Errungenschaft ohne Narrativ. Vergleich dazu ‚Eine Kurze Geschichte der Menschheit, von Yuval Noah Harari, Pantheon Verlage, 2015
10 vgl. Richard Sennett: "Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität." Aus dem Amerikanischen von Reinhard Kaiser; S. Fischer Verlag, Frankfurt 1983;
11 Rem Koolhaas in einem Interview mit der Tageszeitung „Die Welt“, 23.04.2014 

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