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In meiner Studienzeit, vor etwa 25 Jahren, beschloss ich nach meiner ersten entwürdigenden Souterrain Single Wohnungserfahrung zukünftig nie mehr so zu wohnen. Vielleicht scheute ich die schleichende Eigenbrötlerei. Lieber wollte ich mit Freunden eine gemeinsame Bleibe in einer verlassenen Häuserzeile der Dresdner Neustadt einrichten. Gasheizung, Küche und Badewanne installierten wir selbst – im selben Raum. Trotz unseres liebevollen Engagements musste die Bude so armselig und heruntergerockt gewirkt haben, dass mein Vater niemals einen Schritt über die Türschwelle gewagt hätte. Zugegeben. Zur Zeit seines einzigen Besuchs fehlten obendrein noch die Wohnungstüren. Mitleidig, im Treppenhaus bleibend, sagte er in die Wohnung hinein: „Bub, du musst hier nicht wohnen“. 

Doch Dresden war für uns ein von der Wende geschaffenes El Dorado. Voller Aufbruchsstimmung. Abends erkundeten wir verlassene Quartiere, standen unvermutet in prunkvollen Innenhöfen oder leerstehenden Offizierscasinos. Manchmal suchten wir die Strassen nach gardinenlosen Wohnungsfenstern ab, um Platz für unsere Zeichenateliers zu finden. Viele hatten überhastet ‚rübergemacht‘, so war die Stadt leer. Geblieben waren herrenlose Häuser. Strom und Wasser schaltete die Stadt auf Anfrage zeitweilig frei. 

Später wechselte ich von der Arbeiterwohnung mit Stockwerktoiletten in einen feudalen Gründerzeitblock. Eine ornamental verglaste, zweifügelige Tür öffnete in eine gediegene Eingangshalle. Sie mass gut und gerne 5 x 20m. Die Höhe betrug sicher über 4m. Wunderschöne, pure Platzverschwendung! Noch nie hatte ich vorher derartiges betreten. Im Studium erzog man uns streng damit Erschliessungsflächen zu minimieren. Und nun spielten wir indes im Gang Badminton! Mit Netz! Am eindrucksvollsten blieb mir die Leere, als freier Raum.

Überhaupt: Leere Räume! Freiräume. Das kannte ich nur von Kirchen oder unserem Heuboden im Frühling. Einmal fanden wir eine verlassene Betriebsmensa eines alten Schlachthofes. Die Wände waren fensterlos bzw. verbarrikadiert. Das Dach darüber war verglast – und leck. Der Fischgrätparkett darunter schien vom eingedrungen Wasser getränkt. Es konnte sich im Raum nicht ausdehnen und wölbte sich nun vor uns als mannshohe Welle, quer durch den Saal. Was für ein Anblick. Wir konnten darüber laufen. Das vergesse ich nie mehr.

Es sind die leeren Räume, die uns wichtig sein sollten. Sie sind Bedeutungsträger oder Entwicklungsräume mit denen es sorgsam umzugehen gilt. Vielerorts glaubt man nicht an die Bedeutung der Leere. Mit einseitigem Verständnis von Wachstum glaubt man zu verbessern und botoxiert so achtlos manch wertvolle räumliche Falte. Schätzen wir nicht leere Räume wie die Lauben der Berner Altstadt als wahrhaftigen Dienst an der Menschheit? Allein schon deswegen, weil man im Regen darunter gehen kann? Halb Bologna ist so menschenfreundlich gedacht.

Architektinnen und Architekten werden verpflichtet, maximal zu nutzen, so als hätte Raum an sich keine Bedeutung und damit Existenzberechtigung. Räumliche Motive wie Portikus, Piano Nobile, Arkade, Loge und Halle existieren kaum mehr. Selbst im Treppenauge wird der Lift eingebaut. Doch sind es nicht gerade Freiräume, nach denen wir uns oft am Meisten sehnen?

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Einer der Essays, die in der Südostschweiz erschienen. Jeder mit dem Anspruch grosse Themen, nicht nur der Architektur, möglichst einfach und in wenigen Zeilen zugänglich zu machen.

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