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Gehe ich vors Haus, verstellen mir ost- und westseitig stotzige Berge die Sicht. Wegen ihnen kommt die Sonne spät ins Tal, dafür geht sie früher. Das sage ich zumindest derjenigen Verwandtschaft, auf deren Besuch ich nicht allzu viel Wert lege. Das Haus mus sich oft starken Winden entgegenstemmen. Bei böigem Sturm meine ich die An- und Entspannung in dem vom Fachwerk gefassten Mauerwerk richtiggehend zu spüren. Unten bewaldet und oben blank, ragen die kantigen Felsformationen so steil nach oben, als würden sie der Sonne etwas zum Spielen gönnen wollen. Wie Leinwände wirken sie dann auf mich. Jeden Tag anders. Nie sah ich sie in der gleichen Lichtstimmung.

Gewärtige ich dann, wie viele hunderte Meter sich die Spitzen über den Talboden erheben, denke ich: Wir alle hier, hocken zusammen auf einer riesigen Steinkugel, und rauschen damit durchs All. Schwierige Telefongespräche führe ich deswegen bevorzugt im Garten. Der Anblick der alpinen Szenerie relativiert alles aus dem Telefonhörer, so entmutigend und unüberwindlich Klingende.  

Suiseki, ein Kompositum aus 水 für ‚Wasser‘ und 石 für ‚Stein‘ ist die japanische Kunst, in der Natur vorgefundene Steine in meditativ ansprechender Weise zu präsentieren. Wenn ich draussen zwischen Schilt und Vorderglärnisch stehe, und Dunst aus den Wiesen und Wäldern steigt, dann werde ich an dieses kunstvolle arrangierte Suiseki erinnert. Von Ennetrösligen aus, genauer von der Wiese der Hänätäpälätä, wirkt der Vorderglärnisch ähnlich perfekt und erhaben wie der unvergängliche Mount Fuji.

Unsere Umgebung hier scheint grün und fruchtbar, doch im Glarner Süden, auf einer Wiese hinter dem Volg, sah ich an einem Baggerloch, wie dünn die grüne Schicht auf dem darunterliegenden Geröll doch war. Das Wiesland lag zart darauf wie ein Flaum. In Adlenbach, dem Dorf gegenüber, sieht man von oben wie die Wiesen von Trampelpfaden, Wegen und Strassen durchzogen sind. Nahe den Häusern wirken die asphaltierten Wege scharf von der Landschaft getrennt. In den Feldern dagegen, gehen sie sanft über und laufen darin aus wie vergängliche Spuren. Vermutlich ist ein Platz im Glarnerland schlicht eine stark genutzte, von vielen heruntergetrampelte Wiese, so wie der Zaunplatz einst eine Wiese war.

Verhaltensforscher nennen übrigens das Phänomen solcher von vielen geformten Trampelpfade ‚Desire Lines‘, zu Deutsch ‚Wunschlinien‘. Die Pfade, kaum planbar, gleichen eigentlich einer Abstimmung mit den Füssen. Deshalb seien sie eine sehr demokratische Angelegenheit, sagt Prof. Dirk Helbing von der ETH Zürich: 'Wie in der Demokratie entscheidet die Mehrheit. Schließlich kann sich ein Trampelpfad nur bilden, wenn ihn genug Menschen nehmen.' Das finde ich eine wirklich schöne Erklärung für Demokratie. Denken sie daran, wenn sie einen der vielen Pfade in unserer Glarner Landschaft begehen und demokratisch mitformen, wissend, dass die grüne Schicht unter ihren Füssen recht dünn ist.

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Einer der Essays, die in der Südostschweiz erschienen. Jeder mit dem Anspruch grosse Themen, nicht nur der Architektur, möglichst einfach und in wenigen Zeilen zugänglich zu machen.

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