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Resonante Räume für Vulnerable, Wohnheim der psychiatrischen Dienste Graubünden
Annäherung Rothenbrunnens Charakteristik bildet vor allem sein Bergrücken, eine dicht bewachsene Südwand. Man spürt unmittelbar das besondere, mediterrane Klima. Man meint Feigen und Palmen könnten hier gut gedeihen. Die Szenerie kulminiert im Kurhaus, das mit seinem eindrücklich gestalteten vertikalen Garten und Blumenbeeten die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Gerne würde man bis zu der kleinen Balkonnische hinaufzusteigen, doch Gitter verschliessen den Weg.
Die Anfahrt nach Rothenbrunnen führt die meisten über die Pro Graund (Dorfstrasse) frontal auf die Bäckerei Schmid zu. Ihre reizvolle Giebelseite gibt bereits einen Hinweis darauf, was danach folgt. Doch das Ladengeschäft im Parterre steht scheinbar leer. Es fehlt vermutlich an Versorgungsangeboten und Treffpunkten – einer Poststelle, einem Laden oder gastronomischen Angebot.
Rechterhand breitet sich ein unbestimmtes Siedlungsgebiet aus, während sich linkerhand ein historischer Dorfkern intakt zeigt. Die Gebäude stehen nah beieinander, säumen den Strassenraum nicht gleichmässig, sondern treten vielmehr untereinander in Beziehung. Enge und Weite, Nähe und offene Vorplätze wechseln. Fassaden schieben sich gestaffelt in den Raum, wodurch ein ansprechender, auf den menschlichen Massstab bezogener Strassenraum entsteht. Im Perimeter der PDGR-Anlage sollte dieser Rhythmus seinen Abschluss finden, doch genau hier wirkt der Ort gestört. Aus der Perspektive des Besuchers ist die grösse des ‚Intervalls‘ und Adressierung nicht nachvollziehbar. Das Kurhaus und sein Brunnen leiden, trotz guter Absichten, unter der Positionierung der von Liesch errichteten Bauten. Es liegt dabei weniger an der nachlässigen Sanierung, sondern grundlegend an der Stellung und Präsenz der Baukörper.
Topografie Nach Süden hin wirkt die Landschaft mit grosser Weite. Der Hinterrhein und die Bergmassive sind die prägenden Elemente. Umso stärker kommt die Enge von Rothenbrunnen zur Geltung, umrahmt von stotzigen Flanken. Seit dem Mittelalter thronen auf den Felsköpfen Burgen, hier Hoch- und Innerjuvalt. Später wurde eine Sperrstelle eingerichtet. Der Ort war ein Durchgangsort und wichtige Station einer Transitroute im Mittelalter. Die Bebauung folgte vor allem der Hangkante. Später entstanden Querstrassen als Ausläufer in Richtung Hinterrhein.
Der Landschaft sprechen manche heilende Wirkung zu. Es ist gut vorstellbar, wie die Natur als lebendiges Gegenüber mit ihrem Lauf der Dinge resonant antwortet, relativiert und zur inneren Ruhe einlädt. Rothenbrunnen markiert einen Übergang von Weite zu Enge, bildet einen landschaftsräumlichen Halt oder Stop.
Es ist ein besonderer, für ein Wohnheim spürbar guter Ort. Nicht zuletzt wird Wasser, als Symbol für Leben, Heilung und Spiritualität gesehen. In Rothenbrunnen hatte die Quelle eine lange Tradition. Dass sich mit der Zeit aus dem Bade- und Kurbetrieb ein kantonales Zentrum für Volksgesundheit, inklusive Betreuung entwickelte, scheint nur folgerichtig. Rothenbrunnen hat das landschaftliche Potential zu einem Kraftort.
Ortsbau Die ursprüngliche Absicht von Liesch war es vermutlich, einen (zu) grossen Hofraum mit dem Bestand zu schaffen – zumindest legt die Fotografie links diesen Eindruck nahe. Der einstöckige Trakt zwischen den Bauten könnte als Pavillon in diesem Raum gedacht gewesen sein. Tatsächlich jedoch läuft das langezogene Volumen der städtebaulichen Absicht zuwider. Es zerschneidet den Raum in ein Hinten und ein Vorne, es trennt scharf in zwei Bereiche: ein öffentlicher Raum und ein Hofbereich, der den PDGR zugeordnet ist. Inklusion ginge anders.
Die hohen ortsbaulichen Qualitäten entlang der Dorfstrasse fordern regelrecht dazu auf, die Ordnung weiterzuführen, bis vor das Kurhaus. So war es unser erster Ansatz, einen gefassten Platz zu schaffen, der den Ortskörper entlang der Strasse fortführt. Ziel war es, der Enge vor der Garage einen weiten Platz folgen zu lassen und anschliessend mit einem zweiten Baukörper einen engen Übergang zum Polenweg zu gestalten. Doch je intensiver wir uns mit der Geschichte des Ortes auseinandersetzten, desto klarer wurde, die verschütteten Qualitäten, wieder hervorzuholen und neu zu interpretieren zu müssen.
Zentral für unseren Entwurf ist der ‚rote Brunnen‘, der nicht nur auf der Achse des Mittelrisalits des Kurhauses liegt, sondern auch Zielpunkt der einstigen Kantonsstrasse war, jene die vom Hinterrhein kam. Die durch den Bestand von Liesch erzwungene Strassenführung und Bauetappierung sowie die neu gewonnene Kenntnis der historischen Setzung führten, ja zwangen uns dazu, erneut einen einzigen langen, mächtigen Baukörper zu entwickeln. Bereits früher existierte an gleicher Stelle ein ähnlich langgestrecktes Gebäude, das zusammen mit dem Kurhaus ein Ensemble bildete und mit einen Barockgarten in die Landschaft wirkte.
Am Kopf unseres neuen Gebäudes, zur Strasse hin, liegt der öffentlichste Ort – das Cafè. Es dient als klassische Caféteria, aber im Wesen als überdachter (Markt)Platz, der flexibel für Veranstaltungen genutzt werden kann, sei es ein Weihnachtsmarkt oder kulturelle Anlässe. Dahinter befinden sich dienende Räume der Gastronomie, darüber liegen Wohnstudios und Wohngemeinschaften, vereint unter einem gemeinsamen Dach.
Unseren Beitrag verstehen wir als Ensemblebildung mit dem alten Kurhaus. Statt davor einen vermeintlichen Dorfplatz zu schaffen, öffnen wir eine Parklandschaft in Richtung Rothenbrunner Bächlein, hin zum Wasser. In einer SRF-Reportage erinnert der Nachbar Andreas Marugg an den Verlust der einstigen Kurparkanlage und begann, einen vertikalen Lustgarten zu gestalten. Nun ergibt sich die grossartige Möglichkeit, dem Dorf wieder einen ‚Kur‘-Park zu schenken.
Unweigerlich wird der Neubau das grösste Bauwerk in Rothenbrunnen sein. Was früher Klöster oder später Industriebauten waren, kann heute ein Wohnheim sein – ortsbauliche Grösse und soziale Bedeutung dürfen, ja sollten in Dörfern korrelieren, besonders in Anbetracht der Tatsache, dass 300 Dorfbewohner:innen über 400 Arbeitsplätze stellen. Das Dorf ist auf solche Einrichtungen angewiesen – das gilt wohlgemerkt auch umgekehrt.
Aussenräume Mit der Umgebungsgestaltung wird das Ziel verfolgt, einen multifunktionalen und barrierefreien Aussenraum zu schaffen, der sowohl den Bedürfnissen der Bewohnerinnen und Bewohner als auch der Öffentlichkeit gerecht wird. Zentrale Treffpunkte mit Sitzgelegenheiten, wie Schachbretttischen, und ein gemeinschaftlich nutzbarer Grillbereich laden zu Interaktionen ein. Gleichzeitig bieten Rückzugsorte wie Hängematten und Liegeflächen Raum für Entspannung. Für die aktive Freizeitgestaltung stehen eine Boulebahn, Tischtennisbereiche sowie grosszügige Spiel- und Liegewiesen zur Verfügung.
Die naturnahe Gestaltung spielt eine zentrale Rolle im Konzept. Ein Nasch- und Kräutergarten sowie die Öffnung eines angrenzenden Bachs schaffen nicht nur funktionale, sondern auch emotionale Mehrwerte, indem sie die Verbindung zur Natur betonen. Zusätzlich wird das Dachwasser in Wasserflächen auf dem Areal geleitet, was zu einer natürlichen Regenwasserrückhaltung und -infiltration führt. Diese Massnahme reduziert die Abflussmenge bei Starkregenereignissen und stärkt die Erd- und Grundwasserregeneration. Die neu geschaffenen Wasserflächen und Feuchtbiotope fördern die Biodiversität, da sie als Lebensraum für verschiedene Pflanzen- und Tierarten dienen können. Diese nachhaltige Gestaltung verbessert das mikroklimatische Umfeld. Strategisch platzierte Schattenkonstruktionen steigern die Aufenthaltsqualität, insbesondere an heissen Tagen.
Die Barrierefreiheit stellt einen wichtigen Aspekt der Planung dar. Durchlässige Wege sorgen für eine einfache Orientierung und komfortable Nutzung, auch für Menschen mit Beeinträchtigungen. Die neue Umgebung soll nicht nur die Lebensqualität der Bewohnerinnen und Bewohner steigern, sondern auch ein Begegnungsort für die Dorfbevölkerung werden. Offene und einladende Flächen fördern die Einbindung des Wohnheims in die lokale Gemeinschaft und stärken die Inklusion. Mit diesem Konzept entsteht eine harmonische und funktionale Anlage, die ökologische, soziale und praktische Anforderungen gleichermassen erfüllt.
Architektur Ein vertikales Treppenhaus verortet die Baute. Es markiert den Übergang zwischen dem öffentlichen Platz, der Cafeteria und dem anschliessenden Wohnheim. Ein weit auskragendes, perforiertes Dach fasst die verschiedenen, kleinteiligen Wohngruppen und Studios. Bewohnerinnen und Bewohner finden darunter ein Zuhause, fühlen sich hoffentlich geborgen unter dem mächtigen, schützenden Dach. «Hier bin ICH dahei!»
Das imposante Pfettendach erinnert an traditionelle Ställe. Es wirkt vielleicht wie eine Nebenbaute oder ein Seitenflügel im Verhältnis zum Kurhaus. Die Architektur zielt auf einen Ausdruck von Schutz und ‚Be-Hausung‘ ab, fernab von Hotelästhetik. Die grosszügigen Traufüberstände ermöglichen es, entlang der Hausmauern zu verweilen, sei es allein oder in einer Gruppe.
Zwei Treppenhäuser spannen das Grundrisslayout auf. Das vordere, öffentliche Treppenhaus ist nahe am neuen Dorfplatz gelegen, während das zweite, funktionale Treppenhaus im hinteren Bereich angesiedelt ist.
Es wird durch einen grosszügigen Warenlift – und Wäscheabwurf – ergänzt, der sowohl der Küche als auch den Bewohner:innen, z. B. für Umzüge, dient.
Über mittig liegende Gänge, die wir Gassen nennen gelangt man zu den Wohnungen. Dort öffnen Küchenfenster und Vorbereiche um - falls gewünscht – Kontakt zu ermöglichen. Die Bewohner:innen können sich nach aussen präsentieren oder nur ihre Schuhe oder persönliche Gegenstände draussen abstellen, bevor sie ihre Wohnung betreten. Diese sind funktional organisiert: Man betritt eine Art Ankunftsbereich mit Küche, der in einen gemütlichen Wohnraum mit bedachter Terrasse übergeht. Das Bett steht geschützt hinter dem Badezimmer, dann folgt die Wohnecke an der Loggia. Einbaumöbel bieten Stauraum, während genügend Platz für persönliche Aneignung bleibt, sei es in den Nischen im Gang oder in der Wohnung selbst.
So entsteht ein Ort, der Gemeinschaft und Privatsphäre ermöglicht– ein eigenes Zuhause mit Bezug zur Geschichte, der Kurtradition – und vor allem zur Landschaft von Rothenbrunnen, zumindest für eine Zigarettenlänge.
Nachhaltigkeit und Konstruktion
Konstruktion des Dachs. Das Dach wird aus leichten Holzelementen gefertigt, die in ihrer Neigung die grobe Form des Dachs vorgeben. Die charakteristische, leicht geschwungene Dachform wird durch die Feinanpassung auf der Ebene der Konterlattung präzisiert. Eine geschuppte Biberschwanzeindeckung in verschiedenen Tonalitäten, teils aus Glas verleiht dem Dach ein lebendiges Erscheinungsbild. Da es weithin sichtbar sein wird, ist es essenziell, dass es sich harmonisch mit dem bestehenden Ortsbild verbindet.
Etappierung. Der Neubau wird an der Stelle des bestehenden Personalhauses errichtet, sodass die vulnerablen Klientinnen und Klienten bis zum Umzug in ihrer vertrauten Umgebung verbleiben können. Erst danach werden das bisherige Wohnheim und Teile des Untergeschosses abgebrochen. Zur Verkürzung der Bauzeit, schlagen wir eine Kombination aus vorgefertigten Holzbauelementen und Trockenbauweise vor. Das Untergeschoss sowie die Aussenwände des Erdgeschosses und des ersten Obergeschosses werden in Massivbauweise ausgeführt, um der muralen Bauweise des Orts gerecht zu werden. Der Erdbau wird auf ein Minimum beschränkt, und der unterirdische Bestand bleibt nahezu unangetastet. Eine leicht bombierte Grünfläche überdeckt die Bereiche. Dank der Gebäudetiefe und fünf Geschossen entsteht ein kompaktes Bauwerk. Treppenhauskerne und die Erschliessung über zentrale Gänge reduzieren die Verkehrsflächen, sodass die Nutzflächen für Wohnen und Betrieb maximal flexibel bleiben. Die Wohnungswände sind nichttragend und können umgebaut werden, Ebenso die Wände im Erdgeschoss, da die Lasten über Stützen abgetragen werden.
Der Rohbau ist auf eine lange Lebensdauer ausgelegt. Kurzlebigere Elemente wie Fenster und Einbauten können einfach ausgetauscht werden. Die Materialien im Innenraum sind robust und pflegeleicht, während Schadstellen an der Aussenhülle einfach repariert werden können.
Inklusion und Teilhabe Das Café wird kein rein internes Angebot, sondern ein offener Ort der Begegnung sein. Es wird verschiedenen Parteien zur Nutzung zur Verfügung stehen. Bänke und grosszügige Sessel laden zum Verweilen, Arbeiten oder zu Gesprächen ein. Mit Blick auf den Brunnenplatz oder den vertikalen Garten bietet das Café eine lebendige Abwechslung. Wir stellen uns vor, dass es auch als Marktplatz dienen könnte – ein offener, überdachter Raum für alle.
Auch der neue Park wird barrierefrei und zugänglich gestaltet. Die grosszügigen Wegführungen schaffen Verbindungen über das Gelände, sodass sich Bewohner und Passanten hier begegnen können. Zugleich sorgen durchdachte Bepflanzungen für Rückzugsorte. In Anlehnung an Herrn Maruggs Vorstellung, dass 100 Menschen in seinem Garten sein können, ohne sich zu begegnen, möchten wir einen Raum schaffen, der sowohl Gemeinschaft als auch Rückzug ermöglicht.
Die Wohnräume selbst sind der wichtigste Aspekt. Sie bieten den Bewohnerinnen und Bewohnern die Möglichkeit, Nähe und Distanz individuell zu gestalten. Kontaktmöglichkeiten bestehen an den Eingängen, während Vorhänge Rückzugsoptionen schaffen. Klare Achsen und Sichtbeziehungen strukturieren die Räume, während sie gleichzeitig ein Gefühl von Offenheit vermitteln.
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Wettbewerb im offenen Verfahren, 2. Platz nach Überarbeitung, Neubau Wohnheim Rothenbrunnen für die Psychiatrischen Dienste Graubünden (PDGR), Jurybericht «hier». Team: Benedikt Profanter, Kevin Wüthrich, Birk Thomas mit Silvan Fischer Landschaftsarchitekten bsla, Silvan Fischer, Ronja Kessler, Ingenieru Walter Bielder AG sowie Gabriele + Partner HLKS