Tagaus, tagein spulen wir im Trott des Alltags Routinen ab. Zähneputzen, duschen, Tee kochen etc. Es sind über die Jahre verinnerlichte, oft achtlose Verrichtungen, die wir in unseren Alltag verankern. Widerfahren uns heftige Umbrüche, dann entwickeln wir Routinen zu bedeutungsvollen, vereint getragenen Ritualen.
Eindrückliche Bräuche, wie die Höhenfeuer des 1. August, entstammen ursprünglich den Hochwachten des Mittelalters. Auf Anhöhen warnte man mittels der Feuerzeichen vor feindlichen Bedrohungen. Heute erfreuen uns die einstigen Meldefeuer als festliches Ritual in der Nacht des Bundesfeiertages. Sie sind berührender Ausdruck von Gemeinschaft und Identität.
Doch schaffen wir heutzutage neue Rituale?
Unmittelbare Bedrohungen, wie zu Zeiten der Höhenfeuers, kennen wir ja nicht mehr, oder? Mein Eindruck ist, dass viele Rituale daher verschwinden, und für etliche Menschen an Bedeutung verlieren. Vermutlich glauben wir weniger aufeinander angewiesen zu sein. Wir fühlen uns vor jeglicher Unbill bestens gewappnet, nicht wahr? Ernteausfälle kompensieren wir mit Einkäufen aus verschont gebliebenen Regionen oder mit Versicherungsgeldern. Unwetter sagen uns Wetterprognosen vorher. Mit SUVs und Outdoorkleidern ziehen wir wagemutig in Richtung Hochgebirge. Wir frieren im Winter nicht mehr, weder draussen noch drinnen. Die Heizung läuft. Das Warmwasser kommt verlässlich aus dem Duschkopf.
Doch Rituale könnten mehr leisten. Der deutsch-koreanische Philosoph Byung-Chul Han versteht sie als Ge’wohn’heiten, als schützendes Haus in dessen Räumen wir uns auskennen und uns geborgen fühlen. Wir‚wohnen‘ eben darin. Die Abläufe kennend, teilen wir miteinander Leid und Freude. So bewältigen wird vereint Wendepunkte in unserem Leben. Trauerfeiern, Hochzeiten, Taufen, aber auch Schulabschlüsse und Staatsempfänge. Denken Sie an ein gemeinsam gesungenes Gutenachtlied, das den Kleinen die Angst vor der Nacht nimmt. Auch das ist ein Ritual, unter Zweien.
So bewältigen wird vereint Wendepunkte in unserem Leben.
Noch war ich an keiner Teezeremonie, doch vermute ich, dass in japanischen Zen-Praktiken, wie dem Bogenschiessen, beim Judo oder Zazen die Handlungen stets auf das Allernotwendigste reduziert und reglementiert werden, um ein gemeinsames Handlungsgerüst zu schaffen und die schiere Gedankenflut zu mässigen. Ich stelle mir gerne vor, wie im Grunde einfache Tätigkeiten zu bedeutungsvolleren anwachsen, wenn es nicht mehr blos darum geht ein Heissgetränk zuzubereiten, sondern Architektur, Geschichte, Meditation sowie die kulturelle Bedeutung von Material und Wasser wundervoll ineinander zu verweben. Die Versenkung, der Fokus auf die Tätigkeiten mildert allzu starke Gefühlswallungen. Das empfinden wir bei Trauerfeiern beispielsweise als tröstlich.
Rituale sind also mehr als Routinen, weil sie über uns hinaus weisen und zu Selbstvergessenheit führen. Allein schon deswegen wäre es ratsam wieder aktualisierte Riten zu schaffen, denn etwas mehr Selbstvergessenheit würde so manchem von uns wohl ganz gut anstehen.
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Einer der Essays, die in der Südostschweiz erschienen. Jeder mit dem Anspruch grosse Themen der Architektur möglichst einfach und in wenigen Zeilen zugänglich zu machen.