Neubaustopp! forderten manche lauthals. Solche Ideologisierungen einiger Berufskolleginnen und -kollegen sind befremdlich. Dennoch: Der Wandel findet statt –seit Jahren. Was man bislang vorschnell abgeräumt hätte, entwickelt sich angesichts des Nettonull-Ziels endlich zur Vorbedingung und Qualität. Was üblicherweise in einem Ersatzneubau endete, wird heute zuerst gründlich hinterfragt.
Bestehendes wird neu wahrgenommen, muss geliebt und einem Bricoleur gleich verarbeitet werden. Was lässt sich damit machen? Was lohnt es zu bewahren? Die in der Auseinandersetzung mit dem Vorhandenen entstehende Reibungswärme, beseelt die Architektur. Das war im Grunde schon immer so – es ging nur allzu leicht vergessen.
Ein bemerkenswertes Beispiel steht in München: Der grösste Museumsneubau Europas der 1830er Jahre, entworfen von Leo von Klenze, drohte nach dem Zweiten Weltkrieg wegen eines 40 Meter grossen Bombenkraters (1943) abgerissen zu werden. Hans Döllgast, ein Architekturlehrer und begnadeter Zeichner – zaundürr, mit einer Gestalt wie Karl Valentin– musste zunächst aus der Distanz zusehen, wie die Säle geplündert wurden. Doch 1946 nahm er sich der klaffenden Wunde an, anfänglich ohne Auftrag. Seine ersten Entwürfe kontrastierten stark mit dem Bestand: Glasbausteinfüllungen standen unvermittelt den rhythmischen klassizistischen Reliefs aus Lisenen, Säulen und Bögen gegenüber. Die durchscheinenden Flächen weigerten sich, eine Verbindung mit dem Altbau einzugehen – als wollten sie sagen: Wir wollen mit unserer Geschichte nichts zu tun haben.
Nach Jahren der Auseinandersetzung entschied sich Döllgast, den Krater mit Trümmerziegeln zu schliessen. Die Bombenschäden blieben dabei bewusst sichtbar. Vor der neuen Mauer positionierte er feine Stahlstützen im Rhythmus des Bestands, für die Dachlast. Vertiefungen in der Fassade griffen die Proportionen des Originals auf. Gleichzeitig wagte er Neues: Eine grosszügige Monumentaltreppe auf der Nordseite, um das Museum besser zu organisieren. Die Integration der einst auffälligen Oberlichter in die Dachflächen sowie die Akzentuierung der Seiten mit Dreiecksgiebeln.
Döllgasts Eingriff war nicht unumstritten. Man hätte lieber einen Neubau gesehen oder die Wunde „geheilt“. Als junger Mann, erschien mir das Gebäude unfertig. Diese irritierende Unfertigkeit ist jedoch Döllgasts grösstes Vermächtnis. Die Wunde nicht zu übertünchen, erfordert Haltung. Die Plombe ist daher weniger eine ästhetische Lösung als eine ethische Botschaft.
Übrigens traute man ihm nicht zu, die Aufgabe zu bewältigen, und stellte ihm einen „Kontrollarchitekten“ zur Seite. Wer aber seine Skizzen kennt, weiss, welch aussergewöhnliches Gespür Döllgast für das Vorhandene hatte. Darin liegt der Schlüssel zu respektvollem Umgang und guten Bauten: Nur was man wahrnimmt, kann einen kümmern.
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Einer der Essays, die in der Südostschweiz erschienen. Jeder mit dem Anspruch grosse Themen, nicht nur der Architektur, möglichst einfach und in wenigen Zeilen zugänglich zu machen.